Kostenexplosion Rare Diseases – oder rare Kosten mit hohem Wert?

Bericht aus dem Dachsaal der Urania von unserer Leiterin der Gruppe der „seltenen Lebererkrankungen“ Frau MMag. Melitta Matousek am 5.11.2018 „Kostenexplosion Rare Diseases – oder rare Kosten mit hohem Wert?“.

Nur ca. 5% der Seltenen Erkrankungen (Rare Diseases) sind derzeit mit spezifischen Therapien
behandelbar. Steht das solidarbasierte Gesundheitssystem hinter Patienten mit hohem medizinischen
Bedarf und schlechter Prognose? Die Innovationskraft der pharmazeutischen Industrie muss
aufrechterhalten werden, um neue Behandlungsmöglichkeiten auch für kleine Patientengruppen
weiterhin zu ermöglichen. Die OECD sieht Österreich bei Lohnsteuer und Sozialversicherungsabgaben
nach wie vor im Spitzenfeld und gleichzeitig wird behauptet, dass die Innovationen bei seltenen
Erkrankungen unser Gesundheitssystem an seine Grenzen bringen – wo liegt die Wahrheit?
Wie kann der Balanceakt zwischen Patientenbedürfnissen und Finanzierbarkeit gelingen? Ist eine
ganzheitliche Kosten- & Nutzenbetrachtung für das Gesundheitssystem möglich? Wie kann unser
Gesundheitssystem seiner Verantwortung nachkommen? Hat Solidarität eine Grenze?
Mit dieser Dialogveranstaltung möchten wir Sie zu einer Diskussion einladen, um gemeinsame
Lösungen zu erarbeiten.

Zitiert von: https://www.pharmig-academy.at/

Beim bereits vierten Rare-Disease-Dialog der Arbeitsgruppe innerhalb der Pharmig Academy wurden
Kosten und Nutzen in der Behandlung von Patient*innen mit seltenen Erkrankungen diskutiert.
Wie war das? Kosten und Nutzen bei Patient*innen? Kosten-Nutzen-Analysen sind mir etwa aus der
Berechnung von der Investition in grenzüberschreitende Bahnlinien oder von der Installation neuer
Telefonleitungen bekannt, aber bei Patient*innen? Heißt das: ich wie viele andere Betroffene werde
bestraft dafür, dass ich – laut jetzigem Stand der Forschung – von einer zu 80% genetisch bedingten,
also unverschuldet, Krankheit heimgesucht wurde?! Bin ich für Krankenanstalten nur ein
Kostenfaktor, eine Belastung fürs „System“, ein Risiko für die Pharmaindustrie und sicher kein High-
End-Produkt mit großem Gewinn?

Der Dachsaal in der Urania war mehr als voll, zweieinhalb Stunden lang referierten und diskutierten
Teilnehmer*innen aus verschiedensten Bereichen Fragen, die sich auf Betroffene von Rare Diseases
(RD) beziehen: „Können wir uns das Medikament X leisten?“ , „Wie weisen wir Erfolge bei kleinen
Patient*innengruppen nach?“, „Ist die etwa 15-jährige Entwicklungszeit von Medikamenten für
wenige Patient*innen den Einsatz wert?“, „Wer deckt mein Risiko in der Medikamentenforschung?“,
„Gibt es überhaupt eine Kostenexplosion?“, „Herrscht in Österreich Innovationsfeindlichkeit vor?“,
„Haben alle Patient*innen ohne Unterschied Anspruch auf die bestmögliche Betreuung und
Versorgung?“, „Wieso herrscht bei den Kosten für Medikamente in Österreich eine solche
Intransparenz vor?“, „Welche Rolle spielen die Selbsthilfegruppen und -organisationen bei der
Erforschung von Rare Diseases?“, „Nutzenbewertung – welche Kriterien werden dafür
herangezogen?“, „Warum werden die Familien der Betroffenen nicht gehört?“

Patient*innen-Solidarität für einzelne Menschen auf der einen Seite und ökonomische
Nutzenbewertung auf der anderen Seite scheinen zunächst unüberbrückbar verschieden zu sein, und
im Bereich der RD kann das drastische Folgen haben. Während 50% aller Betroffenen Kinder sind,
gibt es für etwa 90 bis 95% der RD keine spezielle Therapie. Dr. Fritz Scheiflinger von SHIRE schildert
die krassen Umstände: bis zur richtigen Diagnose besuchen Patient*innen im Durchschnitt acht
Ärzt*innen, vier Ambulanzen und vier Spezialist*innen, nach durchschnittlich zwei bis drei
Fehldiagnosen wird endlich die exakte gestellt. Inzwischen sind rund 4,8 Jahre vergangen. Jahre, die
für eine erfolgreiche Behandlung gebraucht worden wären!

Wir sind mehr, als Ihr glaubt!
Dr. Richard Greil rückte mit Verve die Definition von Seltenen Erkrankungen zurecht: in den USA sind
30 Millionen Menschen von RD betroffen, in der EU ebenso, wenn Betroffene ein Staat wären, so
wäre dies der drittgrößte Staat der Welt! Bei 6 von 100.000 Betroffenen wird von Rare Disease
gesprochen, bei weniger als 2 von 100.000 von URD = Ultra Rare Disease. Die Zahl der RD ist im
Steigen begriffen, so wird etwa die Zahl der Neuerkrankungen von Krebs immer größer, während
gleichzeitig die Lebenserwartung durch neue und verbesserte Therapien auf 75% gestiegen ist. Greil
stimmt dem Begriff Kostenexplosion nicht zu und belegt dies auch: in Prozent des BIP =
Bruttoinlandsprodukts liegen die Medikamentenkosten in Österreich unter dem OECD- Durchschnitt.

Bei der Gegenüberstellung der Kosten in einer „pathologischen“ Ausgabenrechnung, werden – im
Gegensatz zu einer dynamischen Investitionsrechnung – etwa die Rückgewinne für die Erlangung der
bzw. Beibehaltung der ökonomischen Funktionstüchtigkeit nicht berücksichtigt.

Dass Österreich eine gewisse Innovationsfeindlichkeit nachgesagt wird, hat damit zu tun, dass das
Maß an Optimismus und der Glaube daran, Bedingungen verbessern zu können, lahmt. Menschen
werden in so einem Setting eher als Last der Gesellschaft gesehen und nicht als Chance, die Zukunft
für alle zu bauen. Dr. Ernst Agneter präzisierte: statt Kostenexplosion müsse man von
Leistungsexplosion sprechen.

Um Vertrauen ging es auch im Statement von Obmann Andreas Huss, der die mangelnde
Intransparenz bei Medikamentenkosten in Österreich beklagte und das System in den USA zur
Kostentransparenz als Vorbild lobend hervorhob.

Neue Medikamente und Therapien wirken und bewirken in Familien von Betroffenen eine enorme
Erhöhung der jahrelang eingeschränkten Lebensqualität: die Mutter einer Betroffenen am Podium
erhob ihre Stimme und bestätigte, dass auch der Einsatz teurer Therapien „es wert sei“.

Am anderen Ende der Skala sprach Dr. Starz bei seinem Input von einem Innovationsboard, in dem
keine Betroffenen vertreten seien, vom Verbot des Schuldenmachens öffentlicher Institutionen und
davon, wie Verteilungsgerechtigkeit hergestellt werden solle. Er sprach – so verstand ich es – allen
Ärzt*innen die Entscheidungshoheit über Behandlung und Medikamentenverschreibung ab – wie
bitte? …

Am Ende der Statements des Podiums zog ich für mich den Schluss: ich kann von Glück reden, dass
es für meine spezielle RD ein Medikament gibt, kann von größerem Glück reden, dass ich nach relativ
kurzer Zeit einen Arzt fand, der sich mittlerweile große Expertise bei meiner RD angeeignet hat, kann
von extragroßem Glück reden, dass diese Therapie gezahlt wird und – WIRKT! Damit möchte ich
sowohl diesem Arzt als auch der Selbsthilfegruppe, in der ich aktiv bin, DANKE sagen.

Diese Veranstaltung – nur zu einem sehr kleinen Teil von Betroffenen und Vertreter*innen von
Selbsthilfegruppen, die ja auch wiederum aus Betroffenen bestehen, besucht – hat mir zweierlei vor
Augen geführt: einerseits gibt es Ärzt*innen wie Dr. Ladenstein, die keinen noch so dornigen Weg
scheuen um für ihre kleinen Patient*innen ein Medikament auf den Weg zu bringen, Menschen also,
denen wir Betroffene viel verdanken, andererseits gibt es Behörden-Vertreter*innen, die in
gedeckelten Budgets, ökonomischen Effekten und Einsparung im System denken.
Das Recht aller Patient*innen auf die bestmögliche Behandlung sowie der Beginn der
„personalisierten Medizin“ bot schließlich die Möglichkeit zu Diskussion und Publikumsfragen.

Melitta Matoušek, Studien Handelswissenschaft und Wirtschaftspädagogik in Wien und Genf,
Gruppe Seltene Lebererkrankungen innerhalb der Hepatitis Hilfe Österreich.
Wien, 8.11.2018